Corinna Harrer: „Für die Versicherungen bin ich so etwas wie ein Totalschaden“
Zahlreiche Verletzungen bremsten die Corinna Harrer immer wieder aus. Jetzt wurde sie von ihrem Verein LG Telis Finanz Regensburg bei der Sparkassen Gala zusammen mit Maren Orth verabschiedet. Arm in Arm verfolgten sie und ihr Trainer Kurt Ring noch einmal den Olympia-Auftritt auf der Großbild-Leinwand. Im Interview blickt die 27-Jährige noch einmal zurück, gestattet einen Blick in ihre umfangreiche Krankenakte und verspricht, dass sie der Leichtathletik auf jeden Fall erhalten bleibt.
Corinna Harrer, die Entscheidung, die Spikes nach so langer Zeit an den Nagel zu hängen, haben Sie sicherlich nicht über Nacht gefällt. So etwas ist ein längerer Prozess.
Corinna Harrer:
Im Prinzip hatte ich ja schon 2015 nach meinem Achillessehnenriss, den ich mir bei der Team-EM in Cheboksary in Russland zugezogen hatte, ernsthaft überlegt, ob es überhaupt Sinn machen würde, weiterzumachen. Ich spürte bereits damals, dass ich nie mehr so schnell wie früher sein konnte, zumindest was die 1500 Meter anbelangt. Danach kam ein langer Regenerationsprozess, an dessen Ende ich tatsächlich wieder schmerzfrei laufen konnte. Zunächst war ich darüber mehr als glücklich und versuchte mich zu motivieren, dass dies nun eben der Beginn meiner zweite Karriere sein würde. Aber irgendetwas hatte sich in mir verändert. Noch einmal ganz von zu vorne beginnen, den ganzen Aufwand zu betreiben, das kostete mich unheimlich viel Kraft. Weil es auch immer wieder neue Rückschläge gab und andere, kleinere Verletzungen kamen, wurde das Thema „Aufhören“ von Mal zu Mal größer. Dieser Kampf zurück ist keine einfache Sache, dazu braucht man enorm viel Kraft. Einmal klappt das vielleicht, aber ein zweites Mal . . . Eigentlich wollte ich Berlin noch mitnehmen und mir so ein kleines Happyend bescheren. Aber leider hat das nicht mehr geklappt.
Was war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat?
Corinna Harrer:
Mein Rücken machte einfach nicht mehr mit. Die Ärzte haben bei mir inzwischen den dritten Bandscheibenvorfall diagnostiziert, und das mit 27 Jahren. Das ist zwar keine richtig schwere Verletzung, aber sie behindert einen schon ziemlich. Selbst wenn ich mich für Berlin noch hätte qualifizieren können, wäre es keinesfalls sicher gewesen, dass ich es bis dahin auch geschafft hätte. Für die Versicherungen bin ich mittlerweile so etwas wie ein Totalschaden (lacht). Irgendwann beginnt man in so einer Phase auch zu überlegen, was mehr wiegt: Erfolge im Leistungssport oder die Gesundheit. Ich habe mich letztendlich für die Gesundheit entschieden.
Zum Ende Ihrer Karriere konnte man Sie sogar auf der Halbmarathonstrecke beobachten. Angefangen haben Sie aber – was nur noch Insider wissen – als Bayerische Schülermeisterin über 100 Meter. Dann ging es auf die 400 und 800 Meter und wurde von Mal zu Mal länger.
Corinna Harrer:
Zugegeben, das ist schon ungewöhnlich. Angefangen habe ich als Eiskunstläuferin, obwohl ich dazu überhaupt gar kein Talent hatte. Bei den Regensburger Leichtathleten galt ich zunächst als trainingsfaules Mädchen. Deshalb war es für mich fast eine Sensation, dass ich 2006 Bayerische Meisterin in der U 16 über 100 Meter wurde. Die Medaillen hingen in meinem Kinderzimmer, weil ich dachte, dass so etwas sich auf keinen Fall mehr wiederholen lassen würde. Ähnlich verhielt es sich nach meiner ersten Goldmedaille bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Zunächst wollte ich eigentlich gar keine längeren Distanzen laufen, aber Kurt Ring hat mich schlau und mit viel Einfühlungsvermögen zunächst auf die 400, dann die 800 und schließlich auf die 1500 Meter, die zu meiner absoluten Lieblingsstrecke wurde, geführt. Nach 2015 musste ich mich fast zwangsläufig auf die ganz langen Sachen konzentrieren, was ganz gut geklappt hat. Ich wäre wohl die perfekte Kandidatin für einen Lauf-Mehrkampf gewesen (lacht).
Ihr Trainer Kurt Ring hat Sie in der vergangenen Woche als „Regensburgs größte Leichtathletin“ bezeichnet. Lindert solch ein Ritterschlag den Abschiedsschmerz?
Corinna Harrer:
Ein bisschen. Zum einen bin ich froh, dass der ganze Druck jetzt weg ist, dass ich jetzt laufen kann, wann ich will, was ich will und wo ich will, dass ich endlich ausschlafen kann. Aber das weinende Auge wird nicht unbedingt kleiner, weil ein wunderschöner Abschnitt meines Lebens zu Ende geht, der mich sehr geprägt hat. Wenn mir einer von 15 Jahren gesagt hätte, dass ich mal zu Olympia fahren würde, hätte ich ihn ausgelacht.
Dennoch bleibt ein bitterer Nachgeschmack, gerade was London anbelangt. Im Prinzip sind Sie dort – im Klartext – „beschissen“ worden. Wie empfinden Sie das heute?
Corinna Harrer:
Das Problem ist: Wie soll ich meine Olympia-Teilnahme beschreiben? Indem ich jedem die ganze komplizierte Geschichte erzähle? Bin ich eine „gefühlte“ Finalistin? Wäre vielleicht zu vermessen. Aber eigentlich bin ich auch keine Halbfinalistin, zumindest wenn man all die Läuferinnen abzieht, die anschließend wegen Dopings gesperrt wurden. Da bleibt ein bitterer Nachgeschmack, zumal die Nachrichten 2014, 2015 während meiner Verletzungsphase hereintröpfelten. Man hat mir definitiv etwas weggenommen. Doch jetzt, mit dem Abstand von sechs Jahren, möchte ich ausschließlich die positiven Dinge in Erinnerung behalten. Ich war bei Olympia, durfte die tolle Atmosphäre genießen, im Olympischen Dorf wohnen. Das ist etwas Einmaliges. Das ganze „Was-wäre-gewesen-wenn“ bringt auf Dauer nichts.
Welche Unterstützung haben Sie in dieser Phase erhalten?
Corinna Harrer:
Vom Verband leider wenig. Nach meinem Achillessehnenriss haben mir Privatleute meine Reha finanziert. Zumindest ein Strauß Blumen wäre nach meinem verspäteten Quasi-Finaleinzug schon schön gewesen, es hätte keineswegs im großen Rahmen sein müssen. Mein Verein hat mir geholfen, wo es ging, auch was den Aufbau einer beruflichen Laufbahn anbelangt. Bei der LG Telis Finanz Regensburg sind wir eine große Familie, zu der ich mich immer zugehörig fühle. Hier wird niemand fallengelassen.
Ein Hintertürchen haben Sie bei ihrem Rücktritt auf Instagram offen gelassen. Da ist von „Bahn“ und „Kurvenlaufen“ die Rede, und dass dies Ihr „Gestell“ nicht mehr aushalten würde. Heißt das im Umkehrschluss, dass man Sie eventuell auf der Straße doch noch sehen wird?
Corinna Harrer:
Kann sein. Diese Entscheidung habe ich mir bewusst offen gelassen, weil Laufen ein Teil meines Lebens ist. Auf welchem Niveau ich allerdings dort auftreten werde, kann und will ich nicht prognostizieren. Bestimmt keine Deutschen Meisterschaften mehr! Zunächst stehen mein Beruf und mein Privatleben im Vordergrund. Darüber hinaus muss ich ja abtrainieren. Ich möchte das einfach meinem Gefühl überlassen. Aber auf die Bahn kehre ich definitiv nicht mehr zurück.