Christina Hering vor ihrem WM-Start in London: "Die Form ist da"
Womit waren Sie gerade beschäftigt, als der Anruf und die Nachricht der WM-Nominierung vom Bundestrainer kam?
Christina Hering:
Ich hatte einen sehr entspannten Sonntag hinter mir. Ich war total glücklich nach meinem Rennen in Bellinzona, habe aber wirklich nicht mehr mit einer Nominierung gerechnet. Dass es dann doch geklappt hat, kam also total überraschend. Ich habe definitiv noch ein paar Tage gebraucht, um es so richtig zu realisieren.
Es war heuer ein sehr langer Weg zum London-Ticket. Zu Saisonbeginn haben Sie die Norm mal um wenige Zehntel verpasst, dann folgten mehrere Rennen mit schwierigen Windverhältnissen oder Taktikfokus. Gab es dennoch einen Moment, an dem sie an Ihrer Form gezweifelt haben?
Christina Hering:
Ja, das war in der Tat eine schwierige Saison. An meiner Form habe ich nie gezweifelt, aber es ließ sich nicht vermeiden, dass ich mir mental immer mehr Druck gemacht habe. Das hat viel Kraft und Nerven gekostet. Umso besser, dass es jetzt am Ende doch ein Happy End gab.
Spätestens seit 2015 haben Sie zahlreiche Rennen gegen internationale Konkurrenz bestritten. Was lernen Sie daraus? Ist es ein großer taktischer Erfahrungsschatz oder sind es vor allem Nehmerqualitäten, Stichwort Ellenbogen?
Christina Hering:
Ich habe definitiv viel gelernt und mich manchmal schon gefragt wie ich früher ohne Kenntnis der verschiedenen taktischen Finessen so schnell laufen konnte. Eine gute 800-Meter-Läuferin zeichnet meiner Meinung nach die Fähigkeit aus, unabhängig von den Gegnerinnen ihr eigenes Rennen zu machen. Ich denke, ich bin auf einem guten Weg dorthin, habe dort aber definitiv noch Potenzial. Zu oft lasse ich mich noch von meinen Gegnerinnen beeinflussen oder sogar verunsichern. Aber umso wichtiger ist für mich jede weitere internationale Erfahrung, insbesondere taktische Rennen wie nun bei der WM. Zudem nehme ich von Großereignissen den Umgang mit erhöhter Aufmerksamkeit und Druck mit.
Was machen Sie denn inzwischen – seit dem Vorjahr auch mit Olympia-Erfahrung ausgestattet – konkret anders?
Christina Hering:
Mittlerweile habe ich nicht nur eine Generaltaktik, auf die ich vertraue. Insbesondere national habe ich einige Rennen von vorne gestaltet.
2015 sind Sie in Peking bis ins Halbfinale vorgestoßen. Ist das auch für London Ihr Ziel?
Christina Hering:
Auf jeden Fall. Auch in diesem Jahr ist die Konkurrenz über 800 Meter wieder sehr stark. Von der Spitze mit Zeiten von 1:55 Minuten bis zu einer breiten Masse mit Zeiten von 1:59 bis 2:01 Minuten. Meine Form ist da, ich brauche mich nicht zu verstecken, aber es ist auch immer ein bisschen Glückssache, in welchem Vorlauf man landet.
Wenn Sie die Jahre 2015 und 2017 vergleichen, was sind Unterschiede und Parallelen?
Christina Hering:
Parallelen sind die einwandfreie Vorbereitung und gute Form. Unterschiede gibt es wohl vor allem mental. 2015 war mein eigentlicher Saisonhöhepunkt die U 23-Europameisterschaft, die mit Bronze und Bestzeit sehr erfolgreich lief. Bei den Deutschen Meisterschaften unterbot ich dann die Zwei-Minuten-Marke und erhielt dadurch einen Startplatz für Peking. Meine erste WM war Kür, zu verlieren hatte ich nichts. Dieses Jahr startete ich mit dem Ziel in die Saison, möglichst schnell die Norm abzuhaken. Als das wieder und wieder nicht gelingen wollte, hatte ich mit London schon abgeschlossen. Jetzt bin ich nur dankbar, dass ich doch zu meiner zweiten WM darf und will dort zeigen, dass dies die richtige Entscheidung war.
Haben Ihre Trainer Andreas Knauer und Daniel Stoll das Training nach der Nachnominierung kurzfristig modifizieren müssen?
Christina Hering:
Meine beiden Trainer haben sicherlich in den vergangenen Wochen ähnlich viel Stress gehabt wie ich. Die Trainingseinheiten wurden angepasst und auch ihre Urlaubsplanung so verändert, dass sie noch möglichst viele Einheiten mit mir gemeinsam machen können. Dafür bin ich sehr dankbar.
Eine Zeit von 2:00,77 Minuten haben Sie in diesem Jahr schon hingelegt. Damit sind Sie die Nummer 33 der Weltrangliste. Ihre Bestzeit aus 2015 ist etwa eine Sekunde schneller. Sehen wir von Ihnen in diesem Jahr noch eine Zeit unter zwei Minuten?
Christina Hering:
Die Form ist da. Allerdings wehre ich mich selbst ein wenig, mir wieder ein zeitliches Ziel zu setzen. Die ganze Saison war ich auf die 2:01 [WM-Norm] fokussiert und in jedem Rennen ging es nur um eine schnelle Zeit. Ich habe glaube ich noch nie so viele international besetzte Rennen wie diese Saison gewinnen können. Doch da die Norm nie fiel, war die Freude über die Siege abgeschwächt. Daher will ich in London um jeden Platz kämpfen und wenn dabei noch eine gute Zeit rausspringt, wäre das natürlich toll.
Die WM findet im Londoner Olympiastadion statt. Wo waren Sie 2012, als dort die Spiele stattfanden? Sie waren gerade 17 Jahre alt.
Christina Hering:
2012 habe ich meine erste Medaille bei Deutschen Jugend-Meisterschaften gewonnen und danach war meine Saison vorbei. So konnte ich entspannt die Olympischen Spiele vor dem Fernseher verfolgen. Damals hätte ich weder damit gerechnet, dass ich vier Jahre später selbst bei Olympischen Spielen starte, noch dass ich mal in einem so großen Stadion wie in London laufen darf.
Die Leichtathletik-WM ist schon seit einem Jahr an allen Wettkampftagen komplett ausverkauft. Wahnsinn, oder?
Christina Hering:
Die Stimmung im Stadion wird bestimmt toll. Mein Vorlauf findet in einer Evening-Session statt. Das wird bestimmt ein Gänsehaut-Moment.
In der Diamond League in Monaco haben im Juli gleich drei Frauen 1:55er-Zeiten abgeliefert. Das ist eine Ansage, oder?
Christina Hering:
Das ist definitiv eine Ansage. Bei den Männern befinden sich alle Starter innerhalb eines Spektrums von knapp drei Sekunden und bei uns Frauen sind es sechs. Spannend wird es aber bei beiden Entscheidungen.
Mit Ihren 1,85 Metern überragen Sie meistens das Feld. Andererseits brauchen Sie auch mehr Raum, um laufen zu können. Hilft Ihnen die Größe im Rennverlauf?
Christina Hering:
Ich sehe meine Größe als Vorteil. Ich habe, denke ich, in den letzten Jahren gelernt, meine Größe und Schrittlänge zu nutzen.
Wenige Tage nach London geht es weiter nach Taipeh: Wird das nicht zu viel?
Christina Hering:
Mein Ziel war es sowohl bei der WM als auch bei der Universiade zu starten. Wie gesagt, jede internationale Erfahrung ist wertvoll. Ich habe auch nur Positives über die Studenten-Weltmeisterschaften gehört und freue mich schon sehr darauf.
Ihre frühere Trainingspartnerin Fabienne Kohlmann hat bei der letzten Universiade eine Medaille gewonnen. Haben Sie sich schon Tipps geholt?
Christina Hering:
Das stimmt. Fabienne ist auch damals das erste Mal unter zwei Minuten geblieben. Jetzt liegt mein Fokus erstmal auf der WM in London, danach werde ich mir Ziele für die Universiade setzen.