Telis-Teamchef Kurt Ring wendet sich an DLV-Führung und stellt Antrag zu Nominierungsrichtlinien
Der BLV mit seinem Präsidenten Wolfgang Schoeppe unterstützt die Initiative. Kurt Ring und Professor Dr. Grothkopp haben inzwischen ausführlich telefoniert und Grothkopp hat in den Raum gestellt, dies mit der übrigen Verbandsspitze diskutieren zu wollen. Auch der BLV will sich im Verbandsrat Ende November befassen und gegebenenfalls einen entsprechenden Antrag an den DLV formulieren.
Hier das Schreiben von Kurt Ring an Professor Dr. Hartmut Grothkopp im Wortlaut.
Der Vorstand des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) hat die Nominierungs- und Normanforderungen für die deutschen Leichtathletik-Asse im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2016 in Rio (Brasilien) verabschiedet. "Die Normanforderungen wurden auf der Basis der Weltbestenlisten und Meisterschaftsplatzierungen auf der Weltmaßstabs-Ebene der zurückliegenden drei Jahre erstellt. Sie stellen im interdisziplinären Vergleich eine große Ausgewogenheit dar", sagte DLV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen. "Ihre Erfüllung stellt für die Athletinnen und Athleten einen Leistungsnachweis dar für die begründete erweiterte Endkampfchance bei den Olympischen Spielen." "Der DOSB ist in hohem Maße den Vorschlägen des DLV gefolgt. Die Spezifika der Sportart Leichtathletik mit ihren differenzierten Besonderheiten in den 47 olympischen Disziplinen finden in den Nominierungsanforderungen ihren Ausdruck", erklärt Thomas Kurschilgen.
Damit bleibt im Vergleich zu den Olympischen Spielen 2012 und den Weltmeisterschaften 2015 fast alles beim Alten. Der DLV fordert mit seinen eigenen Normleistungen mehr als die internationalen Veranstalter IAAF und IOC, mit dem kleinen Unterschied, dass Olympianormen noch zusätzlich vom DOSB ratifiziert werden müssen, der aber den Vorstellungen des Fachverbandes in den meisten Fällen folgt. Dieses Verhalten wirft viele Fragen auf, die auch in ethischer Hinsicht nicht immer den hohen Maßstäben entsprechen, die sich nicht nur der olympische Sport vorgibt. Oder ist es schon vergessen worden: Die Olympischen Spiele sind der Treffpunkt der Jugend der Welt und eben nicht der beinharte Kampf von nationalen Systemen?
Woher leitet ein nationaler Fachverband oder eben auch im Falle von Olympischen Spielen der nationale Dachverband, ohne Ausrichter beziehungsweise vorgebender Veranstalter der internationalen Meisterschaften zu sein, das Recht ab, seinen Schutzbefohlenen, den Athleten/Innen, härtere Normen als die internationalen abzufordern, verbunden mit einer weiteren Forderung, „der erweiterte Endkampfchance“? Athleten/Innen, die die Anforderungen der internationalen Verbände erfüllt haben, haben in ihrer Vorbereitung Außergewöhnliches erreicht und werden von ihren eigenen Vertretern dann damit abgestraft.
Dies mit dem Druck der Medien und damit auch der öffentlichen Meinung zu begründen, ist in neuester Zeit nicht mehr haltbar. Die Gesellschaft hat sich gewandelt. Beim Sommermärchen 2006, als die Fußball-Weltmeisterschaften in Deutschland stattfanden, wurden die DFB-Kicker trotzdem überschwänglich gefeiert, obwohl sie als Mitfavoriten nur Dritte wurden. Wolf-Dieter Poschmann vom ZDF hat bei den Vorläufen über 1500m minutenlang bedauert, dass kein deutscher Läufer, im speziellen Fall hier Florian Orth, am Start sein kann, und sein Missfallen gegenüber der DLV-Normenpolitik deutlich zum Ausdruck gebracht. Gerade im Falle Orth standen auch die Printmedien hinter dem nun fertigen Zahnmediziner. Auf einen Nenner gebraucht: Deutschlands Öffentlichkeit und auch die Medien wollen deutsche Sportler – sofern sie international qualifiziert sind – bei den stundenlangen Übertragungen sehen, auch wenn es nur in den Vorkämpfen oder Vorläufen so ist. Die stets positiven Kommentare auch bei allen Vorkampfausscheidern zeigt dies überdeutlich.
Die „erweiterte Endkampfchance“ wegen der finanziellen Aufwände der früher abwertend als „Meisterschaftstouristen“ bezeichneten Athleten auf den hinteren Rängen zu begründen, kann von einem System, das zur Förderung gerade dieser Athleten wenig bis gar nichts aufwendet (jährliche Beträge im dreistelligen Euro-Bereich), eigentlich nicht ins Spiel gebracht werden. In Sportarten wie der Leichtathletik tragen die talentierten Topathleten/Innen unter Hintanstellung ihrer Ausbildungs- bzw. frühen Berufskarrieren das volle Risiko für ihr Engagement im Hochleistungssport, organisieren sich mit ihren Vereinen meist selbst die komplizierten Zeitabläufe, oft in dualen Karrieren, die ihnen bei vorgehaltener Hand dann sogar noch vorgeworfen werden, weil sie sich leistungshemmend auswirken können. Von einer sorgsamen sozialen Absicherung kann nicht die Rede sein. Die Sporthilfe hat in einer jüngsten Erhebung ein durchschnittliches Netto-Einkommen von 626.- Euro errechnet, und das auch noch von den Vereinen und dem Sportler selbst „erarbeitet“. Das Hintertürchen Bundeswehr ist bei vielen jungen Leuten da keine brauchbare Alternative, weil die Plätze in den Sportförderkompanien zudem rar und nur der absoluten Elite vorbehalten sind. Viele Top-Athleten verrichten also ihren Job des von der sportlichen Führung gewünschten Vollprofis auf Hartz IV Niveau bei einer 60-Stunden Woche und meist fehlender Sozialabsicherung. Fazit des Ganzen: Wer nicht fördert, kann auch nicht fordern.
Allein die Berechnungsformel, die sich an den internationalen Leistungsentwicklungen anhand der Statistiken ableitet, ist im Grunde falsch, weil die zahlreich durchgeführten Erhebungen in Sachen Doping ein extrem schiefes Licht auf die vergangenen Jahre wirft. Wenn ein Drittel der Topergebnisse im Laufbereich in den letzten 15 Jahren mit anormal hohen Blutwerten – also dopingbegünstigt – erzielt wurden, müsste das bei den Berechnungsformeln berücksichtigt werden. Die bisher wegen Doping nachträglich disqualifizierten Athleten/Innen sind wohl nur die Spitze eines üblen Eisberges. Kennen die Topfunktionäre eigentlich jene anonym durchgeführte WADA-Erhebung der Weltmeisterschaftsteilnehmer von 2011 nicht mehr, in der rund 29 Prozent der WM-Teilnehmer von 2011 in Daegu zugegeben haben, in jenem Jahr gedopt zu haben? Selbst in Deutschland gestehen laut einer Sporthilfe-Studie aus 2013 6,9 Prozent von 1100 befragten deutschen Athleten den Einsatz von Dopingmitteln ein, weitere 40 Prozent machen dazu keine Angaben. Dies steht im extremen Gegensatz zu Lamine Dicks Aussage, „dass 99 Prozent der Athleten/Innen bei den Weltmeisterschaften sauber sind.“
Die Unterschiede zwischen internationaler Norm und nationaler Norm nehmen geradezu groteske Formen an. Wo liegt letztendlich der Unterschied zwischen 13,47sec und 13,46sec über 110m Hürden der Männer? Würde ein Athlet, wie bei der WM 2015 geschehen, beim Unterschied von 1 Hundertstel erneut Gnade finden? Allein ein Hauch mehr Rückenwind oder weniger Gegenwind können diese Hundertstel ausmachen. Hat sich nicht derjenige, der die „deutsche“ Formel erfunden hat, total verrannt? Im Hochsprung der Männer lässt sich das Zentimeterproblem leichter lösen. Man legt einfach immer 2,30m auf. So ungerecht kann ein eigentlich unsinniger Vergleich von Disziplinen ausfallen. Diese Spitzfindigkeiten kommen sicher nicht aus der Ecke des DOSB, sondern eben von einer übereifrigen Leichtathletik, der in Deutschland anscheinend gelingt, Endkampfplatzierungen am grünen Tisch auszurechnen.
Im Zeichen der zunehmenden Globalisierung im Allgemeinen und der Europäisierung im ganz Speziellen verstößt der DLV mit seinen Extra-Normen gegen das Gleichheitsprinzip, das politisch im Grundgesetz des Artikels 3 fest verankert ist. In einem vereinigten Leichtathletik-Europa sind längst nicht alle gleich. Ein kleines Beispiel dafür: Die Österreicherin Jenni Wenth wird mit ihren 2015 erzielten 15:16min über 5000m bei den Olympischen Spielen antreten können. Für den DLV wäre diese Zeit zu wenig gewesen, weil man dafür 2016 keine „erweiterte Endkampfchance“ errechnet hat. Die Österreicherin hat mit diesem Leistungsprofil sogar den Endlauf von Peking erreicht und Weltmeisterschaften sind bezüglich der Athletenqualität absolut mit Olympischen Spielen vergleichbar. Die Elite wird dort nicht um einen einzigen Athleten/In größer sein. Diese Ungleichheit führt natürlich beim deutschen Athleten zu einem ideellen, aber noch mehr finanziellen Schaden. Die Akquise von Sponsoren fällt als Olympiateilnehmer um einiges leichter als ohne Teilnahme.
Eine autoritäre, eigene Normenpolitik kann sich der DLV nur deshalb in dieser Form leisten, weil die Nationalität trotz eines vereinten Europas gar nicht zu wechseln möglich ist, die Athleten also, wenn sie zu internationalen Meisterschaften wollen, konkurrenzlos auf ihren nationalen Verband angewiesen sind. Das führt in den Verbänden noch immer zu einem überkommenen Hierarchiedenken: Die Athleten haben für den Verband da zu sein, zu dessen Erfolg und Glorie beizutragen. Das eigentliche demokratische Selbstverständnis, dass Funktionäre eigentlich für ihre Athleten/Innen und deren Vereine da sein müssten, um deren Interessen und deren Träume zu unterstützen, bleibt da vielmals auf der Strecke. Verbände und deren Funktionäre üben Macht aus, die Athleten sind nicht selten Mittel zum Zweck der institutionellen Selbsterhaltung. Daraus wird abgeleitet, dass man nicht selten Zwang auf die Athleten ausüben kann. Der wahre Sinn von positiver Autorität ist aber, auf Grund von Fachkompetenz den Athleten überzeugen zu können. Ob er sich daran dann hält oder nicht, sollte ihm selbst überlassen sein. So ist es denn auch falsch, oberlehrerhaft zu sagen: Das IOC fordert 4:06,00min über 1500m der Frauen für die Olympischen Spiele 2016, aber wir vom DLV sind der Meinung, dass du für die erweiterte Endkampfchance 4:05,50min brauchst, weil wir Vorkampfausscheider nicht dabei haben wollen.
Damit begibt sich auch der DLV ethisch gesehen auf vermintes Gebiet. Letzte Plätze, die können die Athleten aus den Drittstaaten Österreich, Schweiz oder Tschechien belegen!? Wir sind ein privilegiertes Land. Hatten wir das nicht schon einmal? Ist solch Gedankengut eigentlich gerade in Deutschland noch vertretbar? Genauso bedenklich ist jene Forderung des Bundesinnenministers Thomas de Maizière nach mehr Medaillen für „sein“ Geld. Die Politik kann Leistungssport fördern, was durchaus im Sinne der Gesellschaft ist. Medaillen zu fordern steht ihr aber nicht an. Wenn jemand überhaupt Medaillen fordern kann, sind das einzig und allein die Athleten/Innen von sich selbst und sonst keiner, mögen da noch so viele Nationalhymnen bei den Siegerehrungen klingen. Sie sollten einzig und allein Ausdruck des Stolzes einer ganzen Nation sein, dass eine/r von ihnen etwas Außergewöhnliches geschafft hat. Nicht „wir“ sind Weltmeister geworden, sondern eben nur diese elf jungen Männer, die den Ball einmal mehr ins Tor geschossen haben als Argentinien. Sollten wir und damit meine ich die Politik, die Verbände und deren Funktionäre anders denken, erniedrigen wir außergewöhnliche Menschen mit einmaligen Talenten und ganz persönlichen Erfolgen zu seelenlosen Schachfiguren.