Andreas Knauer: Hering und Trost mit Schal und Mütze in Doha
Bei Temperaturen jenseits von 35 Grad und einer hohen Luftfeuchtigkeit blicken Hering und Trost erwartungsvoll vom 41. Stock des DLV-Mannschaftshotels auf den Start ihres Wettbewerbs am Eröffnungstag. 43 Athletinnen aus 28 Nationen sind für die 800-Meter-Konkurrenz gemeldet. Hering ist bei ihrer dritten WM mit der zwölftbesten Zeit im Feld registriert. WM-Debütantin Trost ist 21. der Entry List. Den letzten Schliff holten sich die beiden 24-Jährigen in München unter der Regie von Andreas Knauer und Jonas Zimmermann. Während Zimmermann im letzten Herbst für den Hering-Entdecker Daniel Stoll, der sich für mehrere Jahre beruflich ins Ausland verabschiedete, als Trainer nachrückte und seitdem wichtige Impulse setzt, ist Knauer bereits seit 2013 als Trainer der Mittelstrecklerinnen aktiv. Der 53-Jährige ist langjähriger bayerischer Landestrainer und seit August 2019 Leiter des Leichtathletik-Bundesstützpunkts München. Die Münchner Mittelstrecken-Trainingsgruppe, die national seit mehreren Jahren herausragt, ist für ihn Profession und Passion zugleich. Knauer wird nicht nach Doha reisen, hält aber engen Kontakt zu den beiden Läuferinnen.
Spätestens mit dem Ende der bayerischen Sommerferien haben die meisten Trainingsgruppen mit der Vorbereitung auf die Saison 2020 begonnen. Die beiden WM-Teilnehmerinnen jedoch befinden sich quasi seit vergangenen Herbst ohne längere Erholungszeiten im Training und mussten noch dazu einen anspruchsvollen Vorbereitungsblock absolvieren. Wie hat das funktioniert?
Knauer: Es ist in der Tat ein langer Zeitraum. Das Herausfordernde war, den Spannungsbogen vom letzten Wettkampf im August bis zum Abflug nach Doha aufrechtzuerhalten. So lange wir die Trainingsstätten quasi allein genutzt haben, lief das super. Als dann aber die anderen Gruppen in ihre Saisonvorbereitung eingestiegen sind, haben wir schnell festgestellt, dass das zu enge Nebeneinander aufgrund der unterschiedlichen Fokussierung beim Wiedereinstieg ins Training und dem Abrufen von Höchstleistungen kontraproduktiv ist. Wir haben in der Folge versucht uns davon weitestgehend fern zu halten und den Trainingsblock noch stärker wie ein Trainingslager betrachtet. Die beiden haben zwischendurch sogar Ausflüge gemacht, was sie sonst in Flagstaff oder anderswo auch getan hätten. Wenn wir in bestimmten Einheiten die Unterstützung unserer Mittelstreckengruppe benötigt haben, hat das super gut funktioniert. Alles in allem haben sich Christina und Kathi in dieser Zeit sehr zielstrebig und vorbildlich verhalten.
Wäre unter diesen Voraussetzungen und bei zehn Einheiten pro Woche ein spezielles Vorbereitungstrainingslager nicht einfacher gewesen?
Knauer: Der Laufbereich im DLV ist bis Juni davon ausgegangen, dass es eine Vorbereitung in Südafrika geben wird. Das hat sich dann aber aus organisatorischen Gründen zerschlagen. Stattdessen sollte es nach St. Moritz gehen. Aber ein Trainingslager in der Höhe mit gleichzeitigem Wetterrisiko in den Alpen hat für uns nicht gepasst. Wir waren in München bestens aufgehoben, wozu auch das Ärzte- und Physioteam hervorragend beigetragen hat.
Es ist im Vorfeld viel über die klimatischen Bedingungen in Doha zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaften gesprochen worden. Das Khalifa-Stadion kann dank einer Klimaanlage gar herunter gekühlt werden. Hat euch das in der Vorbereitung sehr beschäftigt?
Knauer: Das war bei uns kein großes Thema. Wir haben natürlich besprochen, wie wir unser Verhalten an die Gegebenheiten vor Ort anpassen können. Dabei ging es vor allem um klimatisierte Räume. Vereinfach gesagt, verhalten wir uns dort wie im Flugzeug: Schal und Mütze immer greifbar haben und die Mund- und Nasenschleimhäute feucht halten.
Nun sind Christina und Katharina ja unterschiedliche Läuferinnen. Allein die zwanzig Zentimeter Größenunterschied fallen ins Auge. Während sich Christina mit ihren 1,85 Meter in den Rennen viel Raum nimmt, haben wir schon Fotos von Wettbewerben gesehen, auf denen Katharina vollständig hinter ihren Gegnerinnen verschwindet. Taktisch lassen sich auch verschiedene Vorlieben erkennen. Bereitet man beide deshalb unterschiedlich vor?
Knauer: Richtig, Katharina läuft ein hohes Tempo gerne sehr gleichmäßig und ökonomisch, wohingegen Christina auf der Zielgeraden einen echten Punch hat. Zum Ende der Vorbereitung hin sind wir darauf näher eingegangen.
Inwiefern?
Knauer: Mit Christina haben wir beispielsweise daran gearbeitet, dass sie ihren Spurt rechtzeitig ansetzt. Auf dem Niveau einer Weltmeisterschaft sind nahezu alle Läuferinnen auf der Zielgeraden stark. Wenn vorne die Post abgeht und du bist in diesem Moment vier oder fünf Meter zu weit weg, kann das im Ziel gleich Sekunden ausmachen, keine Zehntel, und damit eben auch über das Weiterkommen entscheiden.
Sie soll also in jedem Rennen alles in die Waagschale werfen?
Knauer: Natürlich mit Sinn und Verstand. Die Einstellung in den Rennen muss stimmen. Christina muss überzeugt sein, dass sie ins Finale gehört und das allen auf der Bahn zeigen: „Ich will ins Finale!“ Ihre Entschlossenheit haben wir zum Beispiel beim Gewinn der Silbermedaille bei der Universiade gesehen. Das war schon klasse. Mit ihrer Erfahrung muss sie nun auch bei der WM selber mehr gestalten und jederzeit wach sein.
Letzteres gilt so doch sicher auch für Katharina, oder?
Knauer: Im Prinzip schon. Beide müssen aktiv laufen. Wir haben ihnen sehr deutlich gemacht, dass es nach 400 Metern sehr viel schwieriger ist, eine Position fürs Weiterkommen zu erobern, als eine solche zu verteidigen. Dennoch darf man nicht übersehen, dass es für Katharina der erste Wettbewerb auf diesem Niveau sein wird. Sie hat sich in diesem Jahr bereits um mehr als zwei Sekunden gesteigert. Unser Hauptziel war die Universiade. Das überraschende Halbfinal-Aus dort hat dann einige Zeit an ihr genagt. Aber sie hat sich zurückgekämpft, ist deutsche Vizemeisterin geworden und hat die WM-Norm erfüllt. Daher ist die WM für sie quasi ein Bonbon, den sie sich hart erarbeitet hat. Immerhin hat sie im Sommer parallel noch entscheidende Prüfungen für ihr Staatsexamen geschrieben. Wer das alles unter einen Hut bringt, dem ist auch für eine WM einiges zuzutrauen. Alles in allem muss man sagen, dass Kathi in diesem Jahr so viel gelernt hat, wie das gewöhnlich nur innerhalb mehrerer Jahre möglich ist.
Bleibt euch eigentlich noch Zeit, um euch mit der Konkurrenz zu beschäftigen?
Knauer: Ja, das muss auch noch Zeit finden. Wir kennen die Fähigkeiten nahezu aller Läuferinnen. Die einen laufen gerne von vorne, andere setzen auf den Spurt. Wenn die Rennen eingeteilt sind, gehen wir in die Detailanalyse und versuchen die Taktik damit zu verfeinern.
Ihr werdet vor den Vorläufen also nochmal telefonieren?
Knauer: Ja, das ist geplant, obwohl die beiden auch sehr selbstständig sind. Am Donnerstag werden sie sich nochmal konzentriert vorbereiten. Unter Einbeziehung des Bundestrainers Sebastian Weiß werden wir dann am Donnerstagabend oder am Freitagmorgen die Taktik für die Vorläufe besprechen.
Beim Blick auf die 800-Meter-Meldeliste fehlen in diesem Jahr einige bekannte Namen. Mit Caster Semenya, Francine Niyonsaba und Margaret Wambui ist gleich das gesamte Podium der vergangenen Olympischen Spiele nicht am Start. Erhöht das die Chancen aufs Weiterkommen?
Knauer: Ja! Das Teilnehmerfeld ist enger beieinander als zuletzt. Alle müssen dadurch mehr tun, was den Wettbewerb auch spannender macht. Klar, zur Spitze beträgt der Abstand immer noch zirka zwei Sekunden, aber das ist schon besser als fünf Sekunden.
Als Trainer bist du ja in alle Entscheidungen der Sportlerinnen rund um den Wettkampf eingebunden. Auch bei der Farbwahl des Nagellacks?
Knauer: (lacht) An der Stelle halte ich mich raus. Was haben sie denn ausgewählt?
Rot!
Knauer: Logisch, eine Angriffsfarbe. Sehr gut!