Herbert Czingon heute ... und in den 1960er Jahren in Neuburg als junger Stabhochspringer. Fotos: Reinhard Köchl, privat

02.01.2024 14:57 // Von: Augsburger Allgemeine/Reinhard Köchl

Ex-DLV-Cheftrainer Herbert Czingon: "Steter Kampf um Freiraum mit wenig Aussicht auf Erfolg"

Der frühere Chef-Bundestrainer Herbert Czingon (71) stammt aus Neuburg/Donau und besucht regelmäßig seine bayerische Heimat. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen hat er sich zu den Problemen der deutschen Leichtathletik geäußert und erklärt, warum es ihn von seinem Wohnort Mainz immer wieder zurück zu den Wurzeln drängt.

Sie haben ihre gesamte Kindheit und Jugend bis zum 26. Lebensjahr in Neuburg verbracht, bevor sie wegen der Leichtathletik die Stadt verließen. Heute leben Sie in Mainz, kommen aber regelmäßig an die Donau zurück. Wo haben Sie ihr Herz, in Neuburg oder in Mainz?

 

Herbert Czingon: Das kann man nicht so ohne weiteres beantworten. Mein Herz und mein Kopf sind gleichermaßen in Mainz, wo ich seit vielen Jahren mit meiner Frau lebe, wie auch in Neuburg. Ich pflege halt gerne meine alten Liebhabereien, und dazu gehört nun mal diese Stadt. Seit ich weggezogen bin, zieht es mich immer wieder hierher zurück, nach meinem offiziellen Ruhestand alle sechs bis acht Wochen, im Sommer sogar ein wenig öfter, denn dann gibt es die Möglichkeit, mit dem Zug bis Treuchtlingen zu fahren, um dann den Rest der Strecke durch das Altmühltal mit dem E-Bike zurückzulegen. Darauf freue ich mich jedes Mal.

 

Haben Sie bestimmte feste Anlaufstellen in der Stadt?

 

Czingon: Natürlich meine Familie, mein Bruder wohnt noch hier, viele Verwandte in der Umgebung, aber auch meine alten Freunde aus der Schule und die ehemaligen Leichtathleten des TSV Neuburg. Wir treffen uns mit unserer Abiturklasse mehrmals im Jahr, ebenso ist es mit meinen alten Weggefährten, die früher mit mir zusammen trainiert und Wettkämpfe bestritten haben. Damals gab es ja Anfang der 1970er Jahre noch das LAZ Neuburg/Schrobenhausen, und da haben wir schon tolle und zum Teil auch verrückten Zeiten miteinander erlebt. Die Verbindungen sind nie ganz abgerissen. Ich mag natürlich den TSV-Sportplatz, die Cafés in der Stadt und die Hutzeldörre.

 

Sie hängen nach wie vor an Neuburg. Warum haben Sie die Stadt überhaupt verlassen?

 

Czingon: Ich hätte schon mit 17 gehen können, weil ich als ganz junger Sportler Angebote aus Mainz oder Leverkusen bekam, vor allem wegen meiner guten Leistungen im Zehnkampf. Aber der Respekt vor einer völlig fremden Umgebung war noch riesengroß. Die ganzen Freunde in Neuburg zurückzulassen, das brachte ich 1969 noch nicht übers Herz. Im Prinzip wusste ich jedoch, dass diese Entscheidung für Neuburg schlecht für meine weitere sportliche Laufbahn war. Und so kam es dann auch. Ich wollte unbedingt an den Olympischen Spielen teilnehmen, aber in Neuburg gibt es einfach nicht die Rahmenbedingungen, um sich auf so etwas gezielt vorzubereiten. Irgendwann war mir klar, dass ich später mal Trainer werden wollte. Und so kam es dann auch. Als ich 1978 die Berufung als Stabhochsprung-Bundestrainer erhielt, war es definitiv Zeit, meine Zelte hier abzubrechen.

 

Julian Nagelsmann würde vor Neid erblassen: Mit gerade mal 26 Jahren sind Sie bis heute der jüngste Leichtathletik-Bundestrainer aller Zeiten.

 

Czingon: Das stimmt. Es hat seither nie mehr einen jüngeren Bundestrainer gegeben. Aus heutiger Sicht denke ich allerdings, dass das alles andere als gute Entscheidung war. In meinem späteren Verantwortungsbereich hätte ich dem sicher nicht zugestimmt. Viel Erfahrung hatte ich ja mit 26 Jahren nicht.

 

So schlecht kann die Entscheidung nicht gewesen sein. Sie blieben immerhin bis 2012 im Amt, zuletzt sogar als Chef-Bundestrainer für die technischen Disziplinen. Stolze 34 Jahre.

 

Czingon: Ich hatte auch viel Glück. In meiner Trainerkarriere ging es keineswegs nur immer steil nach oben. Aber selbst in den weniger guten Zeiten gelang es mir, in der Trainerausbildung wertvolle Akzente zu setzen, die der DLV durchaus honoriert hat. Im Prinzip gab es lediglich kleinere, aber nie größere Probleme.

 

In über drei Jahrzehnten haben Sie verschiedene Funktionen beim Deutschen Leichtathletik-Verband ausgeübt. Wo glauben Sie, haben Sie die größten Spuren hinterlassen und was hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?

 

Czingon: Ich blicke auf meine gesamte Zeit als Bundestrainer mit großer Zufriedenheit zurück. Die profilierteste Rolle war sicherlich meine letzte von 2008 bis 2012 als Chef-Bundestrainer mit einer tollen WM 2009 in Berlin und acht olympischen Medaillen allein in meinem Verantwortungsbereich bei den Olympischen Spielen in London. Davor habe ich 1995 die Trainerschule in Mainz gegründet und war Bundestrainer für die männlichen Stabhochspringer, später dann für die Frauen. Mich mit dieser Disziplin zu beschäftigen, hat mir immer die größte Freude bereitet, ich durfte auch einige der erfolgreichsten Jahre des deutschen Stabhochsprungs begleiten. Aber gerade in einer Einzelsportart wie der Leichtathletik weiß ich heute besser denn je: Es geht nur in einem gut aufeinander abgestimmten Team.

 

Gibt es auch einen Moment, auf den Sie hätten verzichten können?

 

Czingon: Wenige.Die Europameisterschaften 1986 in Stuttgart, als kein Stabhochspringer das Finale erreichte, waren etwas, das nicht so schön verlief. Daraufhin wurde ich in den Nachwuchs und in die Trainerausbildung versetzt. Aber das empfand ich als eine gute, eine lehrreiche Zeit. Die Arbeit mit den Jungen war sehr bereichernd, vor allem, weil ich dabei meine eigene Denkweise über das Training weiterentwickeln konnte.

 

Die Zielgerade ihrer Trainerkarriere führte Sie dann in die Schweiz, wo Sie wieder zurück zu den Wurzeln fanden, nämlich zum Stabhochsprung.

 

Czingon: Ich hätte mir kein besseres Ende wünschen können! In der Schweiz gibt es andere Verbandsstrukturen als in Deutschland, das Land ist kleiner und stellt einen auch reisetechnisch vor keine allzu großen Probleme. So war es möglich, von Mainz wöchentlich zur Arbeit in die Schweiz zu fahren, anfangs nach Zürich, später dann nach Magglingen bei Biel, und unter fast perfekten Bedingungen die besten Stabhochspringerinnen und -springer des Landes wie Anna-Katharina Schmid, Nicole Büchler, Angelica Moser und Dominik Alberto betreuen und weiterentwickeln – bis November 2020. Ich bin meiner Familie sehr dankbar, dass sie diesen Schritt unterstützt hat.

 

Das Erreichen der Pensionsgrenze war für Sie aber noch längst nicht das Ende?

 

Czingon: Wenn man so lange in der Szene aktiv ist, dann entstehen natürlich viele Kontakte. Und so wurde ich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, beim Welt-Leichtathletik-Verband als Projektleiter für die Trainerausbildung in Entwicklungsländern tätig zu sein. Das ist meine aktuelle Aufgabe. Eine wirklich tolle Sache mit immer neuen Herausforderungen, anderen Menschen, fremden Sprachen und unterschiedlichen Kulturen. Erst vor kurzem habe ich Südkorea eine Ausbildung für die Trainer aus „least developed countries“ durchgeführt. In solchen Momenten spürt man wieder, dass die Leichtathletik wirklich eine weltumspannende Sportart geworden ist.

 

Deutschland scheint da momentan den Anschluss zu verlieren, die WM in Budapest brachte keine einzige Medaille. Warum ist das so?

 

Czingon: Zum einen ist Trainer als Beruf abseits des Profifußballs in der deutschen Gesellschaft noch nicht anerkannt, die Bezahlung kann junge Familienväter und Mütter nicht einmal ansatzweise dazu bringen, diesen Weg einzuschlagen. Ein Sportlehrer an einer Realschule oder am Gymnasium verdient mehr Geld als ein Berufseinsteiger in der Leichtathletik. In Frankreich zum Beispiel arbeiten alle Trainer gleichzeitig als Sportlehrer an Schulen und besitzen die Möglichkeit, bei vollen Bezügen ihre erfolgreiche Arbeit später am Stützpunkt oder im Verein fortzusetzen. Anderes Beispiel: Die Universitäten in den USA setzen einen klaren Schwerpunkt auf den Sport, wobei die Leichtathletik da nicht einmal annähernd die Nummer eins ist. Aber die Athleten – mittlerweile auch eine ganze Reihe von deutschen – erhalten dort ein Rundum-Sorglos-Paket. Immer mehr unserer besten Talente gehen dorthin Im Vergleich dazu müssen die Sportlerinnen und Sportler bei uns ihre berufliche und sportliche Ausbildung selbst, allenfalls mit Hilfe ihres Vereins oder ihres Trainers organisieren und synchronisieren. Es ist ein steter Kampf um ein klein wenig Freiraum mit wenig Aussichten auf Veränderung.

 

Hätten Sie heute noch eine Chance, als Talent in Deutschland überhaupt wahrgenommen und gefördert zu werden? In Neuburg gibt es ja immer noch den Sportplatz im Englischen Garten, der in den 1960er Jahren ein wahres Biotop für die Leichtathletik war.

 

Czingon: Absolut richtig! Als ich mit 13 Jahren auf die Leichtathletik stieß, gab es nur offene Tore. Der Motor war Karl-Heinz Müller, unser Abteilungsleiter, ein echter Menschenfänger, der alle zur Leichtathletik holte, die bei drei noch nicht auf dem Baum waren. Die Schulen führten Bundesjugendspiele auf einem erstaunlich hohen Niveau durch, bei denen die Talente quasi ein Schaulaufen veranstalteten. Am Descartes Gymnasium gab es dann eine Woche später noch die Schulmeisterschaften. So etwas schuf ein Bewusstsein, dass Leichtathletik eine Alternative zu Fußball sein kann, aber auch eine tolle Möglichkeit, seine Freizeit zu verbringen. Denn was gab es Anfang, Mitte der 1960er Jahre schon für uns? Drei Programme im Fernsehen, die um 17 Uhr begannen, von so etwas wie sozialen Medien ganz zu schweigen. Generell war in dieser Zeit in Neuburg wenig los, also ging man halt auf den TSV-Sportplatz. Der war in jenen Jahren absolut frei zugänglich, jeder konnte kommen und sich an der Leichtathletik und ihren vielen Disziplinen versuchen. Wir haben das weidlich ausgenutzt, wobei das manchen Vereinsfunktionären schon ein Dorn im Auge war. Die hätten am liebsten einen Zaun um das Areal gezogen und alles zugesperrt, damit niemand mehr außerhalb der offiziellen Nutzungszeiten den Platz betreten kann. Wenn das tatsächlich damals realisiert worden wäre, hätte es den Sportler und Trainer Herbert Czingon nie gegeben.

 

Vielleicht wären Sie ja dann Politiker geworden. Als Mitglied der schon legendären Abiturklasse 1972, die am Descartes-Gymnasium für jede Menge Ärger und bei der Abschlussfeier sogar für einen Eklat sorgte und mit Michael Kettner, Fritz Jakobfalvy oder Max Direktor bekannte Persönlichkeiten hervorbrachte, schien das nicht ganz abwegig.

 

Czingon: Es war eine Zeit des Aufbruchs, die 1968 begann, als wir zum ersten Mal am Descartes Gymnasium eine Schülerzeitung herausbrachten. Die junge Generation verlangte nach Veränderung, an den Schulen, in der Politik. Es gab erhebliche Widerstände, aber das setzte auch Kräfte frei, eigene Gedanken zu entwickeln und den Konflikt mit anderen Positionen zu suchen. Wir waren voller Träume. Natürlich prägt mich das bis heute, aber auch die anderen. Wir treffen uns nach wie vor in diesem Kreis, doch leider müssen wir dabei konstatieren, dass sich unsere Hoffnungen auf eine bessere Welt leider nicht erfüllt haben, angefangen beim Klima und längst nicht endend bei den fragilen demokratischen Strukturen in einigen westlichen Ländern.

 

Ein erklärtes Feindbild der 68er war bekanntlich die Bild-Zeitung. Dennoch haben Sie sich für das Blatt sogar zu einer Homestory überreden lassen.

 

Czingon: Weil meine Klassenkameraden einen Brief an die Bild-Zeitung geschrieben hatten, weil ein paar Wochen zuvor ein Berliner als der besten jugendliche Zehnkämpfer Deutschlands bezeichnet wurde. Das stimmte aber nicht, denn das war ich! Tatsächlich kamen daraufhin zwei Bild-Reporter nach Neuburg, haben Fotos von mir und meiner Familie gemacht, beim Training und beim Gulaschessen, und haben gefragt, wie es dem besten deutschen Nachwuchs-Zehnkämpfer geht. Mir fehlten natürlich Sponsoren, und nach dem Bericht bekam ich täglich ein Schnitzel vom Metzger Geiger in der Spitalstraße und monatlich 50 Liter Milch von der Neuburger Molkerei. So sah in jenen Jahren die Sporthilfe aus!

 

Wie hat sich Neuburg aus dem Blickwinkel des verlorenen Sohnes in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt?

 

Czingon: Es ist immer noch dieselbe liebenswerte Stadt, aber inzwischen gehört sie schon zum Rand des Münchner Speckgürtels mit all den Entwicklungen. Was mir als E-Bikefahrer am krassesten auffällt, sind die vielen ungelösten Verkehrsprobleme in der Innenstadt. Anderswo gibt es längst verkehrsberuhigte Zonen, in denen auf Radfahrer und Fußgänger Rücksicht genommen wird, aber hier scheint es nur um einen möglichst zügigen Durchfluss des motorisierten Verkehrs zu gehen, Lastzüge überall. Und die Idee, in den Donauauen bei Joshofen eine zweite Donaubrücke bauen zu wollen, kann ich vor allem aus ökologischer Sicht beim besten Willen nicht nachvollziehen. Da muss es andere Lösungen geben, Beispiele gibt es genug.

 

Spielen Sie mit dem Gedanken irgendwann vielleicht wieder zurückzukehren?

 

Czingon: Ganz aus der Welt ist das sicher nicht, aber meine Frau arbeitet noch als Psychotherapeutin in Mainz, es ist schwierig, dieses Tätigkeitfeld noch einmal zu verlagern. Wir werden mal sehen, wie es in den nächsten Jahren läuft. Eigentlich gefällt es mir sehr gut, Neuburg aus der Perspektive des Besuchers zu erleben.