David Gollnow. Foto: Theo Kiefner

20.01.2012 11:59 // Von: Sven Haist

Auf dem Weg zur eigenen Geschichte: Hürdenläufer David Gollnow kämpft sich ins Rampenlicht

David Gollnow setzt zum Jubelschrei an. Seine Arme sind fast komplett auseinander gestreckt, seine Hände zu Fäusten geballt und seinen Mund hat er weit aufgerissen. Sein blaues Trikot mit der Startnummer 168 liegt eng am Oberkörper an, während seine Haare im Gegenwind wehen.

Das Bild mit der beschriebenen Pose entstand im Sommer vergangenen Jahres, als Gollnow für einen Augenblick nach dem Zieleinlauf des 400-Meter-Hürdenfinals bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel vor Erleichterung die Kontrolle über seine Emotionen verlor. Die ganze Schinderei und die unzähligen Trainingseinheiten hatten sich ausgezahlt. Der Deutsche Meistertitel in der neuen persönlichen Bestzeit von 49,56 Sekunden mündete also in diesen Ur-Schrei. Für die Verhältnisse des jungen Mannes ein wahrer Gefühlsausbruch. Denn zu den Usain Bolts dieser Szene gehört er nicht.

Während der 22-Jährige über seinen bisherigen Karrierehöhepunkt spricht, schiebt er sein Rennrad über das Münchner Olympiagelände. Das dortige Trainingszentrum am Marathontor ist nach dem Vereinswechsel im vergangenen November vom TSV Erding zur LG Stadtwerke seine neue Heimat geworden.

Zuvor standen bei Gollnow zur Mittagszeit Volleyball und Turnen in der Zentralen Hochschulsportanlage auf dem Programm. Ab Oktober kam mit Sport ein drittes Fach in seinem Lehramtsstudium, das er mit Englisch und Sozialkunde im Wintersemester 2009/2010 begonnen hatte, dazu. „Damals habe ich die rechtzeitige Anmeldung zur Eignungsprüfung verschlafen, obwohl man sagen muss, dass der Zeitpunkt dafür extrem früh war. Für viele andere Kurse war sie erst später“, sagt Gollnow, der sich nach dem Abitur auch schon zwei Semester lang in Geowissenschaften versucht hat.

Die zeitintensive Doppelbelastung hat bislang keinen Einfluss auf die Leistungsstärke des Youngsters über die Hürden genommen, trotz des verkorksten Starts in die Freiluftsaison 2011. Dieser zog aber fast einen Disziplinwechsel nach sich. „Ich war enttäuscht von den Hürden und habe daraufhin nur noch die 400 Meter flach trainiert. Ich hatte kein Rhythmusgefühl mehr und bin verkrampft.“ Für seinen Vater und Hürdentrainer Olaf Gollnow stand es aber nie zur Debatte, die alte Domäne ganz zu verlassen. „Für mich war es von vorne herein klar, dass er nach einer gewissen Zeit wieder zur Hürdenstrecke zurückkehrt. Aber um den Kopf frei zu kriegen, war die Entscheidung gut.“

An einen generellen Ausstieg aus der Leichtathletik dachte der Ersatzläufer der 4 x 400 Meter-Staffel bei den Weltmeisterschaften 2011 im südkoreanischen Deagu nicht. Viel zu weit sei er dafür schon gekommen, erzählt er im Rückblick. Erst Ende Juni kehrte Gollnow dann auf die ihm besser bekannte Disziplin zurück. Mit Erfolg. Die U 23-Europameisterschaften im tschechischen Ostrava Mitte Juli bezeichnet er für sich als „den Wendepunkt“. Im Endlauf blieb der Youngster zum ersten Mal in seiner Karriere unter der magischen Grenze von 50 Sekunden und wurde Sechster. Mittlerweile hat er sich an die internationale Konkurrenz herangetastet, nur noch zwei Zehntelsekunden fehlen ihm zur Qualifikationsnorm für die Olympischen Sommerspiele 2012 in London. Die Worte, mit denen der aktuelle Deutsche Meister seine jüngste sportliche Berg-und-Talfahrt Revue passieren lässt, sind mit Bedacht gewählt und die Antworten auffallend kurz. Aus seinem Gesichtsausdruck erschließt sich Sieg oder Niederlage nicht.

David Gollnow, der rund ein halbes Jahr vor dem deutschen Mauerfall 1989 geboren wurde, wuchs im thüringischen Leinefelde auf. Seine Kindheit verbrachte er mit Fußballspielen, ehe es seine Eltern beruflich in den Münchner Norden nach Erding verschlug. Dort nahm ihn seine Schwester im Alter von zwölf Jahren mit zur Leichtathletik. Der heutige Hürdenspezialist fand auf Anhieb Gefallen an der neuen Sportart. Über den Mehrkampf kam er zur Stadionrunde mit zehn Hindernissen, der er fortan seine Jugendzeit widmete und die nun sein Leben prägt. Einem Idol hat er dabei nie nachgeeifert. „Ich will meine eigene Geschichte schreiben, meine eigene Historie haben“, sagt er lapidar, schließlich wisse man ja auch nie, wie andere Athle-ten ihre Leistungen erzielen.

Nachdem Gollnow gerade noch rechtzeitig das Volleyballtraining erreicht hat, verfolgt er im Schneidersitz die einstimmenden Worte des Trainers. Immer wieder wischt er sich schon jetzt mit den Händen über die Sohlen seiner Hallenschuhe. Unzählige Male wiederholt sich diese fast ritualhafte Handbewegung bis zum Ende des Unterrichts. Teilweise sogar nach jedem zweiten Schritt. Die Suche nach dem optimalen Halt auf dem Parkettboden lässt ihn ebenso wenig los wie die ununterbrochene Nachahmung des korrekten Bewegungsmusters nach Fehlschlägen.

Es sind die kleinen, fast nicht auffallenden Details, die Gollnow von den anderen Studenten unterscheidet. „Echt? Deutscher Meister? Nee, wusste ich nicht. Wenn mir das gerade nicht gesagt worden wäre, keine Ahnung, wer er ist und was er macht“, lautet eine sehr häufige Antwort seiner Kommilitonen auf die Frage nach ihm. An der Kleidung erkennt man seinen Werdegang in der Leichtathletik nicht. Der Thüringer trägt ein gewöhnliches, blaues T-Shirt mit der Aufschrift „Running“ und eine kurze, schwarzfarbige Hose. Seinen Genossen gegenüber hat er sich zu Beginn des Semesters nur als „Dave“ vorgestellt, bemerkt eine Studentin am Seitenrand.

Genau in diesem Moment springt der Siebte über die Hürdenrunde beim diesjährigen Meeting in Berlin am Netz hoch und blockt den Angriffsschlag des Gegenübers. Ins Seitenaus. „So schlecht“, kommentiert Gollnow seine eigene Aktion vor sich hin und imitiert die richtige Technik. Zuvor hat der Ball seinen Ärger über einen verloren gegangenen Punkt abbekommen und unliebsame Bekanntschaft mit der Hallentrennwand gemacht. Seinen Ehrgeiz nimmt man jedoch nicht störend wahr; Gollnow findet eine gute Mischung aus seinem eigenen Anspruchsdenken und der nicht am Leistungssport orientierten Einstellung der Mitspieler.

„Es ist positiv auffallend, dass er nicht auffällt“, lobt der Volleyballtrainer sein bodenständiges Erscheinen abseits der Tartanbahn und Papa Gollnow ergänzt: „David ist keiner, der mit seinen Leistungen hausieren geht, aber natürlich gibt er auch gerne Auskunft über seinen Werdegang und seine Erfolge. Allerdings nur, wenn man ihn direkt darauf anspricht.“

Sorgen, Ängste und Misserfolge verarbeitet der Youngster für sich alleine. Wenn überhaupt zieht er seinen „sehr rational denkenden“ Vater und seine rund anderthalb Jahre jüngere Freundin Marleen Eberle zur Rate. Dass seine Partnerin selbst eine gute, wenngleich auch unbekannte, 400-Meter-Läuferin ist, sieht er als Vorteil an. „Dadurch kann sie sehr gut nachempfinden, wie man sich in bestimmten Lagen fühlt und mich unterstützen“, verrät Gollnow. Mit ihr bezieht er eine Wohnung im Herzen Münchens.

Nach dem Hochschulunterricht absolviert das Bewegungstalent, einer programmierten Maschine gleichend, in der abendlichen Dunkelheit die vorgegebene Anzahl an Steigerungsläufen. Wie so häufig eng begleitet und bewacht von seiner Partnerin. Wer ihn in der Finsternis ausmachen will, muss bis auf ein paar Meter an ihn heran laufen. Bei dem Anblick kommt einem sofort der Gedanke seines Physiotherapeuten Martin Doll in den Sinn. „David hat vom Typ her etwas von der norwegischen Langlauflegende Björn Delhi. Schließlich könnte er genauso gut auch seine Runden in den unendlichen Wäldern von Skandinavien drehen“, sagt Doll.

Neun Tage später gönnt sich David Gollnow während des Techniktrainings auf einer einfachen Holzbank in der Halle eine Pause. Sein Vater, der soeben seine Hürdenüberquerung mit einer Videokamera gefilmt hat, läuft von der Seite aus auf ihn zu. „Über dich wird also ein Portrait geschrieben. Das heißt, du offenbarst sozusagen dein Leben“, sagt er süffisant lachend. Für seinen Sohn klingt das nach Attacke. Die Korrektur erfolgt trocken und mit ernster Miene. „Nur mein Trainingsleben.“ Olaf Gollnow hätte es wissen müssen.

 

Sven Haist, der Autor dieses Beitrag, absolviert ein Journalismusstudium an der Macromedia Hochschule München, davon drei Semester Sportjournalismus. Der 21-Jährige stammt aus Deisenhofen, spielte Fußball bis zur Bezirksoberliga beim FC Deisenhofen und ist DFB-Stützpunkttrainer in Oberhaching sowie B-Lizenz-Inhaber. Den Beitrag über David Gollnow, der im Rahmen seines Studiums entstand, hat er BLVonline dankenswerterweise zur Verfügung gestellt.